12. Das letzte Stück vom Kuchen

6:40 Uhr: der Wecker klingelt. Es ist eigentlich noch nicht daran zu denken jetzt wirklich aufzustehen. Die App zeigte gestern Abend nach der Etappe eine notwendige Regenerationszeit von fünf Stunden an. Gefühlt haben wir davon erst die Hälfte genutzt. Im Halbschlaf mache ich mir Gedanken über die heutigen ersten Zeilen des Beitrages. Ich werde schreiben, dass wir heute zum ersten Mal nicht von der Glocke der Dorfkirche geweckt werden. Es ist ganz leise im Ort.

Dann geht das Gebimmel los. Pünktlich um 7 Uhr. Es ist Zeit aus den Federn zu kommen, auch wenn die Nacht etwas unruhig war. Zum einen wegen des Gewitters, zum anderen weil man sich ungewohnterweise eine große Bettdecke teilen musste.

Schade, es ist die letzte Etappe. Da wartet man eine Woche auf diesen Tag und wenn er dann da ist, dann ist es auch irgendwie traurig, dass es nun vorbei ist. Heute haben wir aber nochmal ein ganz schön herausforderndes Programm. Die gesamte fußläufige Strecke würde 35 Kilometer betragen, viel zu viel natürlich. Daher war von vornherein klar, dass ein Teil der Strecke mit irgendeinem Fahrzeug absolviert werden müsse. Idealerweise natürlich der Anfang, da wir selbstverständlich keinesfalls in Riva del Garda im Taxi einfahren möchten. Das Problem: in Stenico fahren nur zwei Busse am Tag in unsere Richtung. Einer abends und einer morgens um 7:15 Uhr. Viel zu früh.

Also beraten wir mit der netten Wirtin, dass wir zunächst den Weg von fünf Kilometern nach Ponte Arche wandern, um von dort dann für ein Zwischenstück bis Dasindo den Bus zu nehmen. Um 8 Uhr sitzen wir beim Frühstück, um 8:15 Uhr besorge ich im kleinen Supermarkt gegenüber, der nun geöffnet hat, unsere Marschverpflegung und erneut Blasenpflaster.

Es ist schon morgens jetzt so warm, dass man die „Beine abmachen kann“ – ein wandertypischer Ausdruck, wenn es darum geht, aus einer langen eine kurze Hose zu zippen.

9 Uhr: wir wandern los. Parallel zur kurvenreiche Straße geht es erneut an den Feldern entlang, von einem Dörfchen zum nächsten. Dort finden sich häufig die schönsten Übernachtungsmöglichkeiten, In jedem Ort gibt es eine Kirche. Manchmal nur so groß, dass eine Handvoll Menschen in ihr Platz hat. Wir kommen an zig Kiwi- und Mirabellenbäumen vorbei. Der Weg führt uns einen Graspfad zwischen zwei Grundstücken entlang. Verwundert frage ich: „Das ist der offizielle Weg von Komoot?“ „Du kannst ja nochmal zurück zur Straße hoch,“ bekomme ich als Antwort. Nein, vielen Dank.

Nun geht es zwischen Maisfeldern entlang, immer mit einer leichten Steigung abwärts. „Heute wird es heiß“, meint der Reiseleiter bereits um 9:30 Uhr. „Ach, hör doch auf!“ ist meine Reaktion. „Wieso?“ „Na, das will ich jetzt doch noch nicht hören!“ „Ok, es wird wohl angenehmen Nieselregen geben.“ Danke!

Die Kinder rasen mal wieder vorweg, wir Erwachsenen kommen kaum hinterher. „Jungs, wartet! Eure Sherpas können nicht so schnell!“ Während des Weges fabulieren wir schon darüber, wie wohl unsere ersehnte Ankunft in Riva del Garda sein wird. Ob da wohl noch mehr Wandertouristen heute eintrudeln werden. „Vielleicht gibt es dort ja eine richtige Warteschlange. Und alle müssen durch ein Drehkreuz.“ Egal, wie wir uns das jetzt ausmalen würden, es wird sicherlich anders werden.

Wir erreichen um 10 Uhr Ponte Arche und suchen die Bushaltestelle. Erstmal in der falschen Richtung. Ich spreche eine ältere Dame aus dem Auto aussteigend an: „Scusi, Bus Riva del Garda?“ Irgendwie versteht sie mich aber nicht. Ich dachte, das Wort Bus sei international. Dann macht sie uns aber klar, dass wir in die entgegengesetzte Richtung müssen. Wir finden die Touristen-Info, in der uns gesagt wird, dass der Bus auf der Rückseite fährt.

Jetzt steig mal einer durch den Fahrplan durch. Eine ältere Dame spricht uns an und macht uns in einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Italienisch deutlich, dass dort nicht der Bus fährt, den wir brauchen. Also wieder zurück in den Infopoint. „Doch, doch, der Bus fährt dort. Aber erst um 11:37 Uhr.“ Ok, das geht gar nicht! Wir schauen zusammen mit ihr auf die Karte und sie schlägt einen anderen Weg vor. Da die nette Dame aber leider nicht so bewandert wirkt, trauen wir doch lieber der App. Sie ruft uns ein Taxi. Wenige Minuten später sitzen wir in einem Bulli und werden von einem freundlichen jungen Mann nach Dasindo gebracht. An einem kleinen Friedhof, mitten zwischen Maisfelder hält er auf einer asphaltierten Straße an. Hier???? Das geht nicht. Mitten in der Pampa, die Sonne knallt von oben, die Hitze kommt von unten, kein Schatten, Asphalt macht müde. Wir haben keine Ambitionen, hier wieder in unsere Wanderung einzusteigen und bitten ihn, noch ein Stück weiter zu fahren. Das wird sich letztlich genauso wie die Wahl auf eine Taxifahrt als sinnvoll herausstellen. Fünf Kilometer weiter werden wir an einem Wander-Parkplatz herausgelassen. Sehr gut! Nach aktuellem Stand sind es noch 13 Kilometer, es ist 11 Uhr.

Seitlich an einer satten Wiese gehen wir den Berg hinauf und treffen oben auf eine deutsche Familie, die ebenfalls diese Wandertour macht, jedoch organisiert von Euro-Hiking. Unsere Kinder sind motiviert, an der Vierergruppe vorbeizuziehen und legen nochmal einen Zahn zu. Ich komme mit dem Tempo kaum mit und möchte auch niemanden im Nacken haben, der mich hetzt. Kurze Rast auf einer Baumwurzel, die Wander-Begegnung zieht an uns vorbei. Wir vergleichen die Anzahl der jeweils benötigten Blasenpflaster, der Reiseleiter ist der Einzige ohne.

Auch in dieser Gegend scheint die letzten Tage einiges an Wasser heruntergekommen zu sein. Die Steine auf dem Weg sind ziemlich lose, etliche Stöcker liegen dazwischen. Waldstücke wechseln sich mit Wiesen-Lichtungen ab. Der Weg gleicht nun einem kleinen Bach. Zwischen den Steinen schlängelt sich das Wasser entlang. Schweigend arbeiten wir uns den Berg hinauf, aber nicht weil schlechte Stimmung wäre, sondern weil jeder so in seinem Wanderrhythmus vertieft ist.

Die vermeintlichen Steinflächen auf den Wegen sind gar nicht fest. Es ist eine Art Filz, der den Untergrund bedeckt. Warum auch immer. Während einer Pillerpause buddelt der Nachwuchs kleine Bachläufe mit den Wanderstöckern in den Boden.

Es geht weiter hoch. Wenn es bergauf geht, dann wünscht man sich, dass es bergab ginge. Und auf dem Weg nach unten möchte man eigentlich nur, dass es wieder hoch geht.

Es sind noch gut sieben Kilometer bis Riva. Der Weg führt uns hinauf zum Refugio S. Pietro und dort werden wir mit dem belohnt, worauf wir eine Woche drauf hingewandert sind: der erste Blick von oben auf den Gardasee. Es ist beeindruckend. Eine Bar versorgt mit kühlen Getränken, eine kleine Kapelle mit Schatten.

Von dort oben soll es hinter dem Gebäude eigentlich weitergehen, doch wir finden keinen Weg und irren um den Aussichtsort herum. Letztlich stellt sich heraus, dass unser Weg gesperrt wurde und wir nun wieder ein Stück zurück müssen, um eine Alternative zu finden. Das löst natürlich keine Jubelschreie bei den Jüngsten aus, aber man muss den Wanderführer mal in Schutz nehmen. Er hat uns bis auf eine Ausnahme so zuverlässig über die kleinsten Wege bis hierher geführt. Und auch jetzt finden wir einen Pfad, der offensichtlich schon seit längerem nicht mehr begangen wurde. Er ist völlig zugewachsen.

Und ich sage noch zu meiner Reisegruppe: „So steil bergab kann ich jetzt aber nicht die restlichen sieben Kilometer gehen.“ Ha! Können wir doch! Bei dem Ort Calvola fange ich an die Technik zu ändern und gehe ein Stück rückwärts. Ist auch nicht langsamer, entlastet aber die Beine.

“Schlange!“ „Waaass!?!?“ „Ja, grasgrün und einen Meter lang,“ weiß der Zweitjüngste, der vorweg ging, zu berichten. Ausschweifend erklärt er, warum es kein Gecko und kein Frosch war. Ich lasse den Blick nun keinesfalls mehr vom Boden.

Es ist jetzt so steil, dass ab Hüfte abwärts wirklich alles wehtut. Die wunderschönen Orte, die wir passieren und die wie aus dem Mittelalter aussehen, fügen sich in diese Steigungen ein. Unterhalb des Ortes Canale machen wir nochmal Rast und verputzen den Kuchen vom Frühstücksbüfett. Hmmm, lecker.

Der Wanderer mit den kürzesten Beinen hat nach wie vor die beste Laune, er ist in seiner Gelassenheit echt unerschüttlich. Von jetzt an möchte er als Kommandant das Kommando übernehmen und befiehlt: „Stillgestanden! Abmarsch! Weiter geht´s!“ Wir quälen uns weiter den schmalen Weg herunter, gepflastert mit zig kleinen runden Steinen. Dann werden wir überholt von einem circa 70-jährigen Jogger. Das gibt es doch nicht! Wir wissen nicht mehr, welche Bewegung wir überhaupt machen sollen, um hier herunterzukommen und der macht sich im Laufschritt bergab. Ich versuche es mit der Abfahrtstechnik: schnelle, kleine Schritte, Gewicht nach vorne verlagert, in den Knie leicht eingeknickt.

Wir erreichen Tenno und suchen uns den Weg zwischen Stadtmauer und Weinreben. Der Jüngste nimmt alles nach wie vor ohne Kommentar, da könnte es jetzt auch noch schneien. Die Apotheke in Tenno zeigt 30 Grad Außentemperatur an.

Wir erreichen das Castello Tenno und diskutieren, ob der Bürgersteig wohl die ganzen Serpentinen bis Riva geht. Dann müsste man nicht diesen mittelalterlichen Weg neben der Burg weiter runter. Eine Frau mittleren Alters, die unser Gespräch mitbekommen hat, weiß, dass es keinen Bürgersteig gibt. Wir kommen ins Gespräch. „Sie wollen noch bis nach Riva?“ ist sie erstaunt. „Ja, wir kommen auch schon ein ganzes Stück hierher!“ Sie wirkt begeistert. So ein Gespräch motiviert jetzt wirklich nochmal. Wir nehmen den steilen Abhang.

3,5 Kilometer von Ankunft findet sich im Wald ein großer Stein mit selbstgebauten Steintürmen. Unsere Jungs bleiben daran stehen wie an einem Lego-Tisch in der Kinderabteilung eines Möbelhauses. So viel Zeit muss sein. Es ist kühler im Wald, die Füße ruhen sich aus.

Wir erreichen Varone, noch 2,5 Kilometer. Nun sind es Olivenhaine, durch die wir uns durcharbeiten. Endlich wird es flacher und wir gehen durch einen Vorort an einem wassergefüllten Stadtgraben entlang. Im Rücken sammeln sich nun einige Wandergrüppchen mit großen Rucksäcken.

Anderthalb Kilometer vor Zielerreichung verlassen wir diese Fährte und müssen wieder durch Weinreben hindurch. Wir passieren auch einen Kuhstall, an dem unser Reiseleiter dann endlich noch seine gewünschten Kühe zu sehen bekommt.

Die letzten 500 Meter geht es an einer Hauptstraße entlang, ein Ortseingangsschild erwarten wir vergeblich. Relativ unspektakulär kommen wir in die klimatisierte Lobby des Hotels der nächsten zwei Tage. Es ist wie ein Katapultieren in eine andere Welt. Heute Morgen noch Urtümlichkeit und Ruhe in Stenico, jetzt Trubel und moderne Annehmlichkeiten in Riva.

17 Uhr: Es ist geschafft! Kaum zu glauben – und zack ist es vorbei!

Wie schade und wie schön!

Jetzt erstmal chillen und morgen resümieren.

Erkenntnis des Tages: „Die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit getroffen!“

Statistik des Tages: 7:30 h Wanderzeit, 21 Kilometer, 1500 Höhenmeter hoch, 2100 Höhenmeter runter, 33500 Schritte

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