Die Ankündigung beim gestrigen Abendbrot des Reiseleiters verheißt nichts Gutes: „Die Etappe morgen hat echt viele Höhenmeter, aber nicht so viel Entfernung!“ Heißt laut Wanderbuch: 12,5 km, 1120 Meter hoch, 250 Meter runter.
Wir gehen früh schlafen, um ausgeruht in den nächsten Tag starten zu können. Als 7:15 Uhr der Wecker klingelt und ich vorsichtig bei den Kindern ans Zimmer klopfte, höre ich von drinnen schon Stimmen. Die Tür geht auf und zwei aufgeweckte Nachwuchswanderer öffnen, die Betten bereits abgezogen. Sehr schön!
Beim Frühstück erzählt die Wirtin, dass sie inzwischen mehr Fahrradfahrer als Wanderer habe. Ihre Saison dauere aber nur von März bis September. Danach kümmere man sich um die Apfelernte.
Die Kinder bekommen schließlich mit, wie die heutige Etappe verlaufen wird und sind etwas niedergeschlagen. Zur Motivation zeige ich Ihnen ein Foto vom Hotel am Abend, bei dem ein Pool auf sie warten wird.
Wir kommen pünktlich weg und starten um kurz nach halb Neun den Wanderweg. Ich freue mich noch über meine gute Form und lasse den Jüngsten kurz vor mir gehen. Kurzes Rascheln auf der rechten Seite. Kurzes Rascheln auf der linken Seite. Wir halten. In diesem Moment schnellt eine armdicke, schwarze Schlange über den Weg. Kurz vor uns. Die Schlange ist so lang wie der Weg breit ist. Circa einen Meter. Ich schreie auf: „Oh mein Gott, oh mein Gott!“ Die Panik treibt mir die Tränen in die Augen und ich lasse mich nur schwer beruhigen. Am liebsten würde ich die Wanderung jetzt und hier abbrechen. Das geht natürlich nicht. Doch Angst raubt einem Energie. Wir ändern die Personenreihenfolge und machen ziemlich viel Lärm. Ich versuche nur noch direkt vor mir auf den Weg zu gucken und vermute hinter jeder Wurzel, jedem Stock erneut ein Reptil.
Es geht zunächst steil auf Natursteinwegen hinauf. Nach circa einer Stunde erreichen wir die Waalwege, die durch ihren Schatten und das Wasser für ersehnte Abkühlung sorgen. Ich ermuntere zum zügigen Wandern auf diesem erholsamen Stück, das es uns leichter macht als der Rest der Strecke. Doch der kleine Kanallauf animiert zu weiteren Wettschwimmspielchen von Blumen, Blättern und Stöckern.
“Mama, ich habe solche Seitenstiche?“ Kein Wunder beim dem Gequassel.
Im Schatten eines Hofes machen wir auf einer alten Bank unsere erste große Rast. Wir haben alles dabei: Brötchen, Würstchen, Manner-Waffeln. Das erste Mal sehen wir auch ein Schild mit einer offiziellen Zeitangabe für unser heutiges Ziel: 3:30 Stunden. Demnach müssten wir um 14:30 Uhr ankommen. Plus die Pausen. Ich denke 16 Uhr sollten wir gut schaffen.
Die Sonne knallt. Inzwischen müssten es 30 Grad sein. Wenn es bergab ginge und dann die Sonne scheinen würde. Oder bergauf und dafür aber im Schatten. Nein, es geht kontinuierlich bergauf und es ist heiß. Immer wieder stoppen wir in halbschättigen Plätzchen, die von kargen Bäumen geschaffen werden. So langsam kippt die Stimmung.
Uns kommt ein Wanderpärchen entgegen. Ja, es komme demnächst ein Wasserlauf. Auch eine Schänke. Aber der nächste Kilometer sei nochmal wirklich heftig, was die Steigung anbelangt. Oh je. Ich nehme jetzt vorne den Rucksack eines Kindes, um die Motivation aufrechtzuerhalten. Was für Bergabsteiger jedoch ein Kilometer und eine halbe Stunde sind, ist bergauf gefühlt vier Kilometer und mindestens eine Stunde. Der Weg führt nun zwischenzeitlich über Wiesen, auf denen die Grillen in Massen von jeder Stelle springen, wo wir unseren Fuß hinsetzen.
Dann endlich um 14:30 Uhr erreichen wir einen Berghof für eine Einkehr. Apfelstrudel und Vesperplatte sollen uns wieder stärken. Auf dem Liegestuhl würde ich jetzt jedoch am liebsten einschlafen. Es fällt schwer nach dieser Pause wieder in die Gänge zu kommen.
Motiviert werden wir auch von dem Höhenmesser unserer Uhr, wonach wir nur noch 300 Höhenmeter aufwärts bewältigen müssten. Das Schild zeigt an: 1 h 50. Die Wirtin ermuntert uns, dass der Weg nun durch den Wald führen würde. Sie erwähnte jedoch nicht, dass bis dorthin erstmal für circa 30 Minuten eine asphaltierte Straße entlanggegangen werden muss.
Jetzt macht es langsam wirklich keinen Spaß mehr. Für die Landschaft drumherum haben wir kaum einen Blick. Es geht stetig bergauf, teilweise so steil, dass nur mit Unterstützung der Wanderstöcke das Gleichgewicht gehalten wird. Zudem wird der Weg schmaler. Wir erinnern die Kindern daran sich weiterhin zu konzentrieren und auf ihren Schritt zu achten. Hinter jeder Kurve hoffen wir auf ein Zeichen der ersehnten Bergbahnstation, oder zumindest eines ebenen Wegstückes. Pustekuchen. Wir entdecken ein Tierskelett. Erinnert irgendwie an Begegnungen in der Wüste.
Die Stimmung ist echt auf dem Tiefpunkt. Uns fällt auch eigentlich nichts mehr zur Motivation der Kinder ein. Wären sie nicht dabei, würde ich auch nicht mehr gute Miene machen. Selbst eine Schlange wäre mir jetzt egal. Soll sie doch kommen. Zudem besorgt mich der Blick nach oben etwas. Es ziehen bereits dunkle Wolken auf. Laut bergfex soll es ab 17 Uhr regnen, ab 18 Uhr gewittern. Die aktuelle Uhrzeit beträgt 16:15 Uhr.
Laut nächstem Schild sind es noch 40 Minuten. Längst haben wir die angegebenen Höhenmeter des Wanderbuches überschritten. Da sollten wir echt mal hinschreiben. Von wegen auch „andersrum“ begehbar. Für wen denn? Profis?Die offiziellen Zeitangaben entsprechen auch eher Bergläufern als normalen Wanderern. Wo sind denn die 3:30 Stunden hin?!? Demnach müssten wir längst im Liegestuhl chillen und Brause schlürfen.
Wir gehen nun auf einer schmalen Forststraße. Ich schmeiße die Musik an. Bei Mark Forster werden wir wehmütig, so k.o. sind wir. Dann entdecken wir eine Unterkunft am Hang, die uns von der Internetrecherche bekannt vorkommt. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Und dann taucht zwischen den Bäumen in greifbarer Ferne die Bergstation auf. Wir jubeln alle vier lautstark. Ein Blick auf die Uhr: 16:58 Uhr. Zur vollen Stunde fährt eine Gondel. Der Jüngste sprintet tatsächlich los und erreicht durch das kleine Bergdorf St. Martin im Kofel als erstes die Gondel. Wir hetzen hinterher. Bloß nicht noch eine weitere halbe Stunde warten müssen.
Wir haben Glück. Just in time springen wir in das Gefährt und dürfen sogleich bergab fahren. Eine Viertelstunde später sind wir im Tal und haben noch 500 Meter vor uns zur Unterkunft. Der Pool mit der Rutsche wird sogleich gestürmt. Endlich die Belohnung für die Kinder. Und demnach auch für uns.
Wir bestellen Essen im Hotel-Restaurant und sitzen müde an der Theke unseres großzügigen Familienzimmers. Es läuft „Die Nanny“ auf dem Tablet. Einfach abschalten.
Flop des Tages: die Schlange und die Angaben im Wanderbuch.
Top des Tages: das Warten der Berggondel auf uns.
Unsere Statistik des Tages: 1786 Höhenmeter rauf, 569 Höhenmeter runter, 17,51 km Gesamtstrecke, 6:16 h reine Wanderzeit
Empfohlene Regenerationszeit: 16 Stunden
Verbrauch des Tages: 11 Liter Wasser plus vier Holunderblütenschorlen, vier Vinschgauer, 12 Würstchen, vier Packungen Manner, zwei Apfelstrudel, eine Vesperplatte, vier Krapfen, zwei Blasenpflaster.
Erkenntnis des Tages: 1. Das war zu viel. 2. Lege Blasenpflaster in der Verpackung nie mit der Gummiseite aufeinander.