Wenn man auf einer Party war und richtig tief ins Glas geguckt hat, dann sagt man sich spätestens am nächsten Morgen: „Nie wieder!“ Ungefähr so denken wir heute morgen. Kurz vor dem Einschlafen gab es noch die Hiobsbotschaft vom Nebenmann: 25 Kilometer und ca. 1200 Höhenmeter rauf. Ernsthaft? Warum wird mir das vorm Schlafengehen erzählt?!?!
Eigentlich wollten wir um 8:30 Uhr die Gondel nehmen, doch ein kieferorthopädischer Eingriff verzögert die Teilnahme am Frühstück und in der Folge auch alles Weitere.
Aber gut. Um neun Uhr sitzen wir bergaufwärts, um 20 Minuten später in Richtung Paflur zu starten. Heute ist es noch frisch am Morgen. Und so gehen wir nicht von Schatten zu Schatten, sondern von Sonnenfleck zu Sonnenfleck. Wir folgen wie immer der Bärentatze – der Markierung für den Vinschger Höhenweg.
Trotz der gestrigen Strapazen fühlen wir uns wirklich gut. Die Regenerationszeit scheint ausreichend gewesen zu sein.
Es geht zunächst auf einer Forststraße entlang. Schließlich sind Hangwege unterschiedlicher Vegetation zu bewältigen. Steinig, breit wie eine Straße oder über Wiesen. Eigentlich ist die Etappe heute wirklich schön. Wir können die Landschaft genießen. Was mich nur beunruhigt ist die Wetterwarnung, die ich auf das Handy bekomme. Gewitter ab 13 Uhr. Sieht aber irgendwie nicht danach aus.
Nach gut einer Stunde haben wir ungefähr ein Fünftel der Gesamtstrecke und Gesamthöhenmeter. Es läuft gut. Was nicht so rund läuft sind die ständigen Stopps aus unterschiedlichen Bedürfnissen: pillern, trinken, essen, Stein im Schuh, Foto machen ….
Wir erreichen Zuckbichl, eine alte Burgruine mit einem traumhaften Blick auf die Täler.
Fast hätte ich den Blick nach links und rechts vergessen, denn bergauf konzentriere ich mich nur auf den Meter Boden vor mir, um dann nicht das ganze Elend auf einmal sehen zu müssen. Doch Kinderaugen sind wachsamer. Und so entdecken wir einen wunderschönen kleinen Hausnachbau in der Felswand.
Um kurz nach 12 Uhr erreichen wir einen kleinen Bergbauernhof, der genauso verlassen da liegt, wie alle anderen Höfe, die wir passieren. Ein kleiner Schrank mit angekündigter Marschverpflegung ist leider leer. Da wir aber dringend eine Pause benötigen, setzen wir uns in den Schatten des Hauses. Unsere Sitzkissen schützen uns vor Steinen und Ameisen, die in den Bergen unglaublich groß sind.
Es geht weiter. Der Weg wird riskanter. Ein steiniger Pfad, gerade so breit wie eine Person, rechts die Wand and, links der Abgrund. In solchen Phasen wird immer wieder bewusst, wieviel Verantwortung man gerade für die Kinder hat. Wir teilen uns dann immer auf jeweils ein Kind auf und mahnen zur Vorsicht. Auch außerhalb dieser schwierigen Passagen ist es gerade die Sorge um das Wohlergehen für den Nachwuchs, das stressen und besorgt machen kann. Während man als Erwachsener zur Not auf alles verzichten kann, müssen sie essen, trinken und auch die Hitze aushalten können. Sobald das Zwischenjammern kommt, steigt das schlechte Gewissen der Eltern. Beteuerungen, dass dies jetzt der letzte Anstieg von …. ist, erzielen irgendwann auch nicht mehr ihre Wirkung. Erschwerend gibt es auf der gesamten Strecke keine einzige Einkehrmöglichkeit, was auch immer zur Erholung und guten Laune beitragen könnte.
Doch nach der Pause haben die Jungs echt einen Lauf, man kommt kaum hinterher. Ich bin ja sowieso davon überzeugt, dass 70% der Leistung in körperlich herausfordernden Situation alleine durch mentale Stärke bewältigt werden kann. Der innere Schweinehund sozusagen.
Jetzt kommt der erste von zwei verbleibenden Anstiegen. Um 13:30 Uhr haben wir (gerade mal) die Hälfte der Strecke geschafft. Um 14 Uhr erreichen wir Talaccio – ein kleines Bergdorf. Nur eine Katze mit ihren beiden Jungen leistet uns dort oben bei einer Pause im Schatten Gesellschaft. 700 Höhenmeter sind bereits geschafft.
Doch jetzt geht es für drei Kilometer auf Asphalt weiter. Bei der Hitze fast unerträglich, die Wärme kommt nun auch von unten. Immer wieder halten wir in kleinen Schattenstellen, die von der mageren Wegbepflanzung erstehen. Jetzt hat gerade der Jüngste einen Durchhänger, dem mit Abnahme des Rucksacks und der Verteilung von Mannerwaffeln begegnet wird. Endlich erreichen wir wieder Waldwege, die für eine ersehnte Abkühlung sorgen.
Nach Umrundung eines Berges und mit dem nächsten Zwischenziel Rimpf zeigt der Reiseleiter auf den Berg gegenüber. Nur da müssten wir noch hoch. Der letzte Anstieg. „Bist Du verrückt??? Da ist ja nochmal wie eine Tageswanderung!“ Aber es bleibt nichts anderes übrig. Unser Blick geht besorgt zum Himmel. Doch bis jetzt meint es jemand gut mit uns da oben. Über uns ist das einzige Sonnenloch. Ringsherum dunkle Regenwolken und in der Ferne auf der anderen Talseite bereits das erste Donnern. Es ist 16:30 Uhr. Wir starten zum letzten Berg. 420 Höhenmeter sollen auf ca. einem Kilometer überwunden werden. Das bedeutet: es wird sehr steil. So steil, dass man beim Wandern nach vorne gebeugt gehen muss, um nicht das Gleichgewicht nach hinten zu verlieren. Jeder zehnte Höhenmeter wird notiert und innerlich gefeiert.
Nach 220 Höhenmetern treffen wir auf zwei Forstarbeiter. Wir kommen ins Gespräch. „Nach Paflur wollt ihr? Das sind noch so zwei bis zweieinhalb Stunden.“ „Ehrlich?“ Ich kann es gar nicht glauben und denke er veräppelt mich. Der zweite Arbeiter kommt hinzu. „Nach Paflur wollen sie. Wenn sie eine halbe Stunde warten, dann können wir sie fahren.“ „Das schafft man schon“, meint der zweite. Und mit Blick auf mich erwidert der Erste: „Schau, sie sind schon fertig.“ Also zwei Stunden gehen wir bestimmt nicht mehr. Wie sollte man das schaffen? Der Jüngste schaut zu mir. Er würde wohl auch gerne auf der Ladefläche eines Pick Ups zum Ziel kommen. Unsere Wanderuhr ist da anderer Meinung. Nur noch ungefähr drei Kilometer und 200 Höhenmeter. Das Einzige, was beunruhigt ist das Wetter. Doch dazu haben die Forstarbeiter keine Meinung. Wir vereinbaren, dass wir zur Not zu ihnen zurück kommen. Zwei Kurven auf der Forststraße seien es und dann käme nochmal ein steiler Waldweg. Es ist 17:15 Uhr.
Naja, es sind letztlich fünf Kurven – ich zähle die Kleineren mit – bevor es wieder am Hang des Berges hochgeht. Der Wald sieht aus wie bei Rumpelstilzchen. Moosüberwachsende große Steine, Wurzeln und viele Pflanzen. So viel, dass die Kinder ihre Hosen verlängern.
Das Grummeln am Himmel kommt näher. Jetzt ist es auch über uns dunkel. Wir quälen uns nochmal den Berg hoch, bis bei Punkt 420 Höhenmetern der Weg links runter geht. Wir müssen nun durch den Wald, zwischendurch immer mal wieder über freie Bergwiesen. Da donnert es über uns lautstark, ganz in der Nähe blitzt es.
“Lauft!!!!! Wir müssen schnell runter! Weg von der freien Fläche!!!!“ Die Stöcker von den Kindern an uns gerissen und alle angetrieben. Über Steine, Wurzeln, Moose rennen wir den Berg hinunter. Ein Wunder, dass sich letztlich niemand verletzt. Wir wollen so schnell wie möglich in den dichteren Wald kommen, der zwar auch nicht das Sicherste ist, aber immer noch besser als auf 1800 Metern auf einer kargen Fläche. Es donnert erneut. Jetzt fängt es an zu regnen. Bis eben tat mir von der Hüfte abwärts alles weh. Das merkt man jetzt nicht. Auch nicht, dass wir ja schon 24 Kilometer gegangen sind. Wir wollen nun einfach nur noch schnellstmöglich runter. Alle im Laufschritt.
Um 18:30 Uhr erreichen wir endlich unseren Gasthof. In zwei Zweiergruppen platzen wir in die Gaststube. Die Wirtin erkennt wohl unsere Verfassung, gibt uns schnell die Schlüssel, führt uns zu unseren Zimmern. Dort fallen alle Emotionen ab. Was für eine Etappe. Es ging so gut los. Doch ab Kilometer 20 war eigentlich längst Schluss. Und der Stress wegen des Gewitters hat sein Übriges getan. Wir haben am Ende einfach nur noch funktioniert und merken erst jetzt, wie es uns eigentlich geht. Wir sind über den Punkt! So sehr, dass wir Erwachsenen kaum etwas essen können. Die Kinder hingegen verschlingen ihre Spagetti. Sehr schön.
Beim Abendessen erzählt das Nachbarpärchen aus Holland, dass sie den Weg in Richtung Süden gehen und gibt uns Tipps zur Aufteilung unserer morgigen Etappe. Sie verbrachten die Nacht dort, wo wir morgen sein werden. Die Wirtin fügt hinzu, dass unsere Etappe heute von den meisten Wanderern in zwei Tagen aufgeteilt wird. Ein weiteres Mal verfluchen wir unser Wanderbuch.
Flop des Tages: das Gewitter am Ende.
Top des Tages: die schöne Aussicht.
Unsere Statistik des Tages: 1639 Höhenmeter rauf, 1811 Höhenmeter runter, 28,41 Gesamtstrecke, 9:21 h reine Wanderzeit
Empfohlene Regenerationszeit: 37 Stunden
Verbrauch des Tages: 13 Liter Wasser, zwei Brötchen, 10 Würstchen, drei Packungen Mannerwaffeln, zwei Waffeln, zwei Packungen Grissinis, 1 Babybel, drei Blasenpflaster.
Erkenntnis des Tages: WAHNSINN